Reichelsheim

Die Kirchenglocken

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Die Reichelsheimer Kirche muss von jeher drei Glocken gehabt haben. Dies geht aus der 'Glöcknervorschrift' aus dem Jahre 1572 hervor. Danach besaß also auch die Vorgängerin unserer heutigen Kirche, eine romanische Parochialkirche, bereits drei Glocken. Diese wurden dann auch in der neuen Kirche, der heutigen Laurentiuskirche aufgehängt.

Da die Reichelsheimer Kirche nicht in einem Stück gebaut und der Kirchturm erst einige Jahre später an die Kirche angebaut wurde, waren die Glocken zunächst in einem Glockenturm über dem Chorraum aufgehängt. Noch heute kann man die Löcher in der Chordecke sehen, durch welche zu dieser Zeit die Zugseile führten. Sie sind als Mundlöcher in den Köpfen von Fresken eingearbeitet. Ebenso zeugt ein großer Schlussstein im Kreuzrippengewölbe der Decke davon, dass durch seine große runde Öffnung die Glocken einst in den Glockenstuhl hochgezogen wurden.

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Blick an die Decke des Chorraums. Deutlich sind die Löcher der Zugseile in den Fresken/Köpfen zu sehen. Durch die Öffnung des großen mit 'IHS' beschrifteten Deckels des Schlußsteins wurden einst die Glocken in den ehemaligen Glockenstuhl auf dem Kirchendach gezogen.


Als der Kirchturm Anfang des 16. Jahrhunderts an die Kirche angebaut wurde, zogen die Glocken dorthin um. Im dritten Stockwerk des Kirchturms sind die Glocken seitdem in einem hölzernen Glockenstuhl aufgehängt. Er lagert auf wuchtigen Basaltsteinen, die in den Turmmauern verankert sind. Durch drei vergitterte Fenster auf der Nord-, Süd- und Westseite klingt das Glockengeläut aus dem Turm. Die Glocken sind im Glockenstuhl so angeordnet, dass sie in Nord/Süd-Richtung schwingen. Dabei hängt die kleine Glocke auf der Ostseite, die große Glocke in der Mitte und die mittlere Glocke auf der Westseite des Turmes.

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Drei Glocken sind im Glockenstuhl des Kirchturms an ungekröpften Stahljochen aufgehängt. Hier im Bild sieht man links die kleine, rechts die mittlere und in der Mitte die große Glocke.

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Blick von unten auf den Glockenstuhl: Die Balken des hölzernen Glockenstuhls lagern auf dicken Basaltsteinen, die in den Turmmauern verankert sind. An der hinteren Wand sieht man noch die alten Rollen der früheren Zugseile, mit denen die Glocken von Hand geläutet wurden.

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Hier sieht man den Aufstieg zu den Glocken. Hinter der Leiter befindet sich die Glockensteuerung, die 2018 erneuert und modernisiert wurde. Auch auf diesem Bild sieht man die beiden Basaltsteine, auf denen diese Ecke des Glockenstuhls lagert.

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Hinter den vergitterten Fenstern unterhalb der Turmuhr schwingen die Glocken der Laurentiuskirche. Deutlich zu sehen sind auf diesem Bild die Basaltsteine (unter dem abgefallenen Putz), aus dem der Turm gemauert ist.

Wie bereits erwähnt, wurden die Glocken ursprünglich mit Seilen von Hand geläutet. Zu dieser Zeit existierte also auch noch der Beruf des 'Glöckners' (siehe auch 'Glöcknervorschrift'). Später wurde das Läuten und Schlagen mit einer sogenannten 'Läutemaschine' durchgeführt. Dabei kamen anfangs aufwendige mechanische Uhren zum Einsatz, welche die Glocken über Motoren zum Schwingen brachten. Die Turmuhren wurden dabei über komplexe Mechaniken gesteuert. Diese Läutemaschinen haben sich immer weiterentwickelt. So verfügen die Glocken heute über moderne Motoren, welche über eine Funkuhr gesteuert werden. Die Uhren haben jeweils eigene kleine Antriebsmotoren mit integriertem Getriebe. Damit gehen die Uhren auf die Minute genau und der jeweils erste Glockenschlag erfolgt auf die Sekunde zur vollen und halben Stunde.

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Eine mikroprozessorgesteuerte Funkuhr steuert heute Glocken und Turmuhren.

Geschichte der drei Reichelsheimer Kirchenglocken

Über den Ursprung der drei Kirchenglocken ist in öffentlichen Publikationen nichts zu finden. Erstmals wird das Jahr 1645 erwähnt, als die große Glocke gesprungen war. Die Reichelsheimer Bürger hatte eine freiwillige Leistung zu einer neuen Glocke versprochen. Sie wurde vom Meister Schornbein aus Marburg im Haingraben (heute gibt es an dieser Stelle eine Straße gleichen Namens) gegossen. Am 17. Juli 1645 wurde sie aufgehängt. Sie wog 20 Zentner (1 Tonne). Allerdings zersprang die Glocke am 1.Advent desselben Jahres wieder. Fast neue Jahre blieb die Reichelsheimer Kirche ohne den Klang der großen Glocke.

Am 15. Juli 1653 wurden schließlich die alten drei Glocken zusammengeschmolzen und drei andere auf musikalischen Ton daraus gegossen. Sie erklangen in den Tönen 'f', 'as' und 'b'. Dieser Dreiklang blieb bis zum heutigen Tag erhalten. Der Meister, der sie gegossen hatte, nannte sich M. Antonius Paris. Die Gemeinde verpflichtete sich, 'dafür dem Meister auf seine eigene Kost 85 Reichstaler auf drei Ziel in zwei Jahren zu zahlen'. Hierzu hatte die Kirche auf jedes Ziel drei Reichstaler zugeben versprochen. Von den drei Glocken blieben 170 Pfund Glockenspeise (=Bronze) übrig, welche für 32 Reichstaler verkauft wurden. Von dem Erlös wurden 1654 drei neue Glockenklöppel gekauft, sowie ein Kelch für 22 Reichstaler.

1764 wurde eine neue kleine Glocke von dem Meister Johann Peter Bach aus Windecken geliefert und 1786 eine neue mittlere Glocke von dem Glockengießer Otto aus Gießen. Als diese 1899 beim Läuten gesprungen war, schaffte die bürgerliche Gemeinde eine neue Glocke ungefähr von gleichem Gewicht und Größe an. Sie kam aus der Glockengießerei Ulrich Apolda aus Gießen. Die Glockeninnschrift lautete: 'O Land, Land, Land, höre des Herrn Wort'.

Das Glockenspiel hat im Laufe der Jahrzehnte vermutlich variiert. Die Glöcknervorschrift dürfte dabei meist eingehalten worden sein. Allerdings zeigen Schlagspuren sowohl an der kleinen, als auch an der großen Glocke, dass hier irgendwann mal Hämmer auf die Glocke geschlagen haben. Auch Spuren und Relikte am Glockenstuhl weisen auf entsprechende Mechaniken hin. Damit wurden die Glocken entweder in verschiedenen Tonhöhen zum Schlagen der Uhrzeit oder zum sogenannten 'Beiern' verwendet. Das Wort ist alt-französischer Herkunft ('baier', heute 'aboyer') und bedeutet 'bellen' oder 'anschlagen'. Beim Beiern werden die Glocken durch das manuelle Anschlagen eines Hammers in örtlich festgelegten Rhythmen und/oder Melodien zum Klingen gebracht. Das Beiern fand in der Regel zu hohen Kirchenfesten wie z.B. Weihnachten, Oster oder Pfingsten statt. Heute kann technisch nur noch mit der mittleren Glocke über den vorhandenen Hammer gebeiert werden. Es findet in heutiger Zeit jedoch keine Anwendung.

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Diese Hammerspuren am Schlagring der großen Glocke könnte von einem Hammer stammen, mit dem in früheren Zeiten 'gebeiert' wurde. Es ist auch möglich, dass der Stundenschlag in Kriegszeiten über die große Glocke durch Umbau des Hammers gemacht wurde.

Die Glocken in den beiden Weltkriegen

In den Kriegszeiten der beiden Weltkriege war Deutschland von Rohstoffen aus anderen Ländern (wie z.B. Eisenerz) weitgehend abgeschnitten und musste mit eigenen Ressourcen klarkommen. Die mittlere Glocke musste deshalb zusammen mit dem Schulglöckchen am 25. Juli 1917 abgeliefert werden und wurde für die Herstellung von Kriegsgerät eingeschmolzen. Am 15. Juli 1921 wurde eine neue mittlere Glocke eingeholt, die am 17. Juli 1921 geweiht wurde.

Aber auch im zweiten Weltkrieg blieben die Reichelsheimer Glocken nicht verschont. Zwei Glocken, die Mittlere und die Kleine mussten diesmal abgeliefert werden. Die mittlere Glocke wurde - widersinnig zu ihrer Aufgabe - vermutlich für die Herstellung von Waffen eingeschmolzen. Der kleinen Glocke blieb dieses Schicksal zum Glück erspart. Sie wurde auf einem Sammelplatz in Hamburg wiedergefunden und nach Kriegsende zurückgeholt und im Kirchturm an ihrem alten Platz aufgehängt.

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Kurz vor Ende des zweiten Weltkrieges wird 1944 die mittlere Glocke (Bildmitte) aus dem Kirchturm gestoßen und fällt in die Tiefe. Die Reichelsheimer hatten Hoffnung auf die Rückkehr: Vor dem Turm wurde ein Haufen Sand oder Erde aufgeschüttet, damit die Glocken beim Aufprall nicht zerspringen.

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Im Kirchenbuch der evangelischen Kirchengemeinde befindet sich diese Urkunde über eine 'Metallspende des deutschen Volkes'. Ausgestellt wurde sie 1940. Die Kirche dürfte diese Urkunde für den Zaun des Kirchhofs bekommen haben. 1944 wird für die Glocken niemand mehr Urkunden ausgestellt haben...

Am 18. November 1954 wurde von der Stadt Reichelsheim der Auftrag zur Herstellung einer neuen mittleren Glocke an die Glockengießerei 'Gebrüder Rincker' in Sinn erteilt. Sie wurde am 5. April 1955 aufgehängt und passte sich wieder harmonisch in den Dreiklang der Reichelsheimer Kirchenglocken ein. Festlich wurde die neue Glocke in Reichelsheim empfangen und viele Reichelsheimer wohnten der aufwändigen Installation der Glocke im Kirchturm bei.

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1955 wird die neue mittlere Glocke angeliefert und in den Kirchturm gezogen.

Nach einem Vorschlag vom damaligen ersten Beigeordneten und langjährigen späteren Bürgermeister Otto Nohl, trägt sie die Inschrift: 'O Land, Land , höre des Herrn Wort, allgewaltig meine Stimme und mahnend ewig für den Frieden'.

So möge der Ruf der Glocken auch in Zukunft weit hinausschallen in unsere Heimat, überall gehört werden und Eingang finden in unsere Herzen. Er soll heute mehr denn je mit dazu beitragen, die Menschheit vor Krieg zu bewahren und ihr ein Leben in Frieden und Freiheit zu sichern.

Die Glocken heute

Vor den Reichelsheimer Kirchenglocken und deren Glockengießer-Meistern muss man eigentlich großen Respekt haben. So läuten doch zwei der drei Glocken schon seit über 250 bzw. 360 Jahren (!) im Kirchturm der Laurentiuskirche. Tagtäglich schwingen die beiden Glocken und läuten zu bestimmten Uhrzeiten. Was hält heute noch so lange?

Die läutbare Bronzeglocke hängt, mit der Krone oben, am Joch schwingbar befestigt, hat innen einen stählernen Flug- oder Fliehklöppel montiert und wird manuell durch Ziehen am Läuteseil, oder durch Zuhilfenahme einer Läutemaschine elektrisch in Schwingung gebracht, dadurch geläutet.

Das physikalische Doppelpendel Glocke - Klöppel muss sehr präzise aufeinander abgestimmt sein, damit der Klöppel die Glocke beim Läutevorgang idealerweise möglichst an ihrem höchsten Ausschlag, dem Umkehrpunkt, trifft. Die präzise Abstimmung von Glocke - Joch - Klöppel ist entscheidend für die musikalische Erscheinung der Glocke und deren Klang.

Glockengießerei Rinker

Die Reichelsheimer Kirchenglocken läuten zu folgenden Uhrzeiten gemeinsam:
  • Samstags um 18 Uhr, Einläuten des Sonntags
  • Sonntags um 08 Uhr, Beginn des Sonntags
  • Neujahrstag um 00 Uhr, Begrüßung des neuen Jahres
  • Zu jedem Gottesdienstbeginn oder Beerdigung
  • Am Totensonntag bei der Verlesung der Verstorbenen im Gottesdienst
  • Bei der Einsegnung der Konfirmanden

Die kleine Glocke

Die kleine Glocke ist auf der Ostseite des Glockstuhls montiert. Sie ist die zweitälteste im Turm und wurde 1764 von Johann Peter Bach gegossen. Die Glocke hat an der Schärfe* einen Durchmesser von 86 Zentimetern und eine Höhe von 82 Zentimetern. Die kleine Glocke läutet täglich um 11Uhr als Zeichen für den bevorstehenden Mittag (früher Zeichen für die Bauern von den Feldern heim zu kehren). Bei Gottesdiensten wird mit ihr während des Gebetes 'Vater unser' geläutet. Außerdem ruft das Läuten der kleinen Glocken bei Beerdigungen zum Gang auf den Friedhof. Der Schlagton der Glocke ist 'b'.

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Die mittlere Glocke

Die mittlere Glocke wurde nach dem Verlust der Glocke durch den zweiten Weltkrieg in 1955 von der Glockengießerei Rinker gefertigt und im Turm aufgehängt. Die Glocke hat an der Schärfe* einen Durchmesser von 92 Zentimetern und eine Höhe von 88 Zentimetern. Sie trägt folgende Innschrift:
O Land, Land, höre des Herrn Wort, allgewaltig meine Stimme und mahnend ewig für den Frieden.
Die mittlere Glocke läutet nicht einzeln. Sie verfügt zusätzlich über ein Hammerschlagwerk (links im nachfolgenden Bild), welches zur vollen Stunde die Stundenzahl der Uhrzeit und zu jeder halben Stunde einmal schlägt. Der Schlagton der Glocke ist 'as'.

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Die große Glocke

Die älteste Glocke der Reichelsheimer Laurentiuskirche ist auch die Größte im Turm. 1653 wurde sie von M. Antonius Paris gegossen. Die Glocke hat an der Schärfe* einen Durchmesser von 106 Zentimetern und eine Höhe von 104 Zentimetern. Die große Glocke läutet täglich um 18 Uhr als Zeichen für den Feierabend (früher Zeichen für die Kinder vom Spielen heimzukehren). Der Schlagton der Glocke ist 'f'.

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* Schärfe = Die Schärfe ist äußerste Rand des sogenannten Schlagrings an der Glocke. Der Schärfendurchmesser ist die größte Abmessung der Glocke. Der Schlagring ist weit unten am Glockenkörper der dickste Teil der Glocke, an den der Klöppel anschlägt.


Der Glockenklang von Reichelsheim

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Unser Video zeigt einen Blick auf den Glockenstuhl der Reichelsheimer Laurentiuskirche mit vollem Glockengeläut aller drei Glocken in den Tönen f, as, und b. Im Video sieht man die kleine Glocke links, in der Mitte die große Glocke und ganz rechts die mittlere Glocke.



Quellen:
- Festschrift 500 Jahre Kirche Reichelsheim 1485-1985
- Glockengießerei Rincker
- Alexander Hitz
Bilder: Alexander Hitz



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