Reichelsheimer Geschichte

Absturz eines B17-Bombers in Reichelsheim

Reichelsheim blieb vom 2.Weltkrieg weitgehend verschont. Als einzige große Katastrophe ist der Absturz eines schweren amerikanischen Bombers zu nennen, der nachfolgend erzählt werden soll.

Der Flugzeugabsturz am 12. Mai 1944

Am Freitag, den 12.Mai 1944, waren über 900 Maschinen der US Army Air Force auf dem Weg in viele Teile Deutschlands. Das Ziel der Alliierten war, Industrieanlagen zur Herstellung von synthetischem Treibstoff systematisch zu zerstören. Alleine 200 Maschinen waren auf dem Weg zu den Leuna-Werken bei Halle. Dort sollten die Hydrierwerke zerstört werden, mit denen aus Braunkohle synthetisches Benzin hergestellt wurde. Auch die PREAG im benachbarten Wölfersheim belieferte mit Schwelerzeugnissen aus Wetterauer Braunkohle die Leuna-Werke. An diesem Tag tobte über Mitteldeutschland eine der größten Luftschlachten des Zweiten Weltkrieges. "Es kam mehr Aluminium vom Himmel, als auf dem Boden unterwegs war", weiss Luftfahrthistoriker Andreas Dort zu berichten.

An diesem Tag startete gegen 08:20 Uhr auch 2nd Lieutenant Reginald H. Pettus vom englischen Stützpunkt Rattlesden (ca. 100km nordöstlich von London) mit einem B-17 Bomber in einer Formation von insgesamt 27 Maschinen in Richtung Deutschland. Zur Mannschaft gehörten außerdem Co-Pilot Ken Ingalls, Navigator Bill Sing, Bombardier Albt Hinkle, Flight engineer/top turret gunner Jay Glass, Radio Operator Jim McInis, Ball turret gunner Walter Siebert, Waist gunner Dick Szcechowski, Waist gunner Otha Stanley und Tail gunner Sergant Joseph H. Klaput. Die Boeing B-17G-45-BO, auch 'Flying Fortress' (dt.: 'Fliegende Festung') genannt, ist einer der bekanntesten schweren Bomber der US-Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg. Sie war bekannt dafür, auch mit schwersten Beschädigungen aus ihren Einsätzen zurückzukehren.

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Die Boeing B-17G hatte ein max. Startgewicht von 29.700kg und wurde von vier Sternmotoren mit je 1200PS angetrieben. Die Höchstgeschwindigkeit lag bei 485km/h. Die Reichweite betrug je nach Beladung zwischen 2900 und 1700km. Jede Maschine konnte max. 5800kg Bombenzuladung aufnehmen. Bewaffnet waren die Bomber mit je 13 Maschinengewehren, Kaliber 12,7mm. Im allgemeinen hatte jede Maschine eine Besatzungsstärke von 10 Mann.
Bild: Wikipedia

Symbol 711 Bomb Squadron
Die Maschine von Lt. Pettus und die Besatzung gehörten zur 711 Bomb Squadron der 447th Bomb Group (3rd Bomb Air Division) und hatte die Seriennummer 42-97179.

Ziel der Mission Nr.63, die von Captain Richards und Major Brown geleitet wurde, war das Flugzeugreparaturwerk Basser in Zwickau.
Dieser Angriff war einer der Schachzüge für die bevorstehende Invasion. Die Alliierten wollten verhindern, dass die Deutsche Luftwaffe ihre Flugzeuge in großer Zahl reparieren konnte. Dadurch sollte erreicht werden, dass die Invasionsflotten zur See und in der Luft nicht durch die deutsche Luftwaffe "gestört" wurden.

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Die Flugzeuge der 447 Bomb Group waren durch das gelbe Leitwerk mit dem weißen "K" auf dem schwarzen Quadrat gekennzeichnet, die 711er Staffel zusätzlich durch ein "Q". Das schwarze Quadrat kennzeichnete die 3rd Air Division. Zusätzlich waren die Motorverkleidungen der 711er Staffel blau lackiert.
Grafik: Wikipedia, Bearbeitung: A.Hitz

Gegen 12:40 Uhr überflogen die Maschinen zusammen mit anderen Bomberverbänden Hessen und wurden rund um Friedberg in schwere Luftkämpfe mit deutschen Jägern verwickelt. In Friedberg regnete es Geschossteile auf die Straßen und Dächer. Mehrere Bomber wurden getroffen und schwer beschädigt. So auch die Maschine von Lt. Pettus, deren Flügel durch Beschuss in Brand geraten war. Der Bomber war so schwer beschädigt worden, dass er sein Ziel nicht mehr erreichen konnte. Die Besatzung entledigte sich ihrer Bomben rund um Friedberg; vermutlich um damit noch größtmöglichen Schaden anzurichten. Die ganze Mannschaft (insgesamt 10 Soldaten) musste abspringen und geriet in deutsche Gefangenschaft. Im 'Friedberger Luftschutz- und Kriegstagebuch' wird ein schwerverletzter Soldat erwähnt, der bei Dorheim mit seinem Fallschirm landete und in ein Lazarett nach Bad Nauheim gebracht wurde. Ob es sich dabei möglicherweise um eines der Besatzungsmitglieder aus der Maschine von Lt. Pettus handelte, ist unbekannt.

Die Maschine trudelte herrenlos weiter in Richtung Reichelsheim. Über Reichelsheim war die Flughöhe der Maschine nur noch so gering, dass sie am Schornstein der damaligen Molkerei mit der Tragfläche hängen blieb. Eine Zeugin, die sich gerade bei der Molkerei aufhielt, berichtet, dass eine Tragfläche des Bombers abriss und in den Hof der Molkerei fiel. Der Rest des Fliegers stürzte auf den damaligen Kindergarten (das heutige Gemeindehaus in der Bahnstraße) und zerstörte das komplette Gebäude. Der Rumpf blieb auf der Hauptstraße liegen. Wrackteile der Maschine waren auf umliegenden Grundstücken verteilt. Glück im Unglück: Eine halbe Stunde vor dem Absturz waren die Kinder nach Hause gegangen und das Gebäude menschenleer. Der Flieger hatte keine einzige Bombe mehr an Bord, die hätte Schaden anrichten können. Es wurde niemand verletzt.
Den Reichelsheimern bot sich ein Anblick der Verwüstung. Wrackteile der Maschine lagen auf der Hauptstraße und in angrenzenden Hofreiten, der Kindergarten war komplett eingestürzt und brannte. Mehrere Gebäude, Hausfronten und Dächer waren durch die Flugzeugtrümmer beschädigt worden und brannten ebenfalls. Zu dieser Zeit war ein Großteil der Reichelsheimer Männer in den 2.Weltkrieg gezogen. Die zurückgebliebenen Frauen und Männer versuchten das Feuer zu löschen und zu retten, was zur retten war.

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Ein Bild der Verwüstung: Der ehemalige Kindergarten war bis auf die Grundmauern eingestürzt. Im Hintergrund ist der Molkereischornstein zu sehen, an dem die Maschine hängen blieb. (1)

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Die heutige Hofreite Dauernheim wurde ebenfalls schwer beschädigt. Teile der Maschine liegen zwischen den Trümmern im Hof. (1)


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Im Vordergrund die Reste des Kindergartens mit Flugzeugwrack, im Hintergrund die beschädigte Hofreite Dauernheim. (2)

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Blick auf die Bingenheimer Straße von der Gaststätte 'Zur Post' in Richtung Norden. Rechts die Hofreiten Diehl und Dauernheim, links das Postgebäude mit dem davorliegenden Flugzeugwrack. (2)

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Ein interessantes Bild: Es zeigt die heutige Metzgerei Haas bzw. Fischer mit angrenzender Gaststätte, davor das Leitwerk des Flugzeugwracks. Deutlich kann man das 'K' auf dem schwarzen Quadrat, das'Q' und die Ziffern '297' erkennen. (2)

Das Ergebnis des Angriffs

Die verbliebenen Bomber der Formation, die den Luftkämpfen entkommen waren, warfen bei ihrem Angriff 205 je ca. 500 Pfund (227kg) schwere GP-Bomben ("General Purpose", Sprengbombe) über Zwickau ab. Als Ergebnis des Angriffs wurde im Protokoll "Gut" vermerkt. Vier der Maschinen wurden abgeschossen, 23 Maschinen kehrten wieder zurück nach Rattlesden.

Zeitzeugen berichten

Leni Hitz, damals 11 Jahre alt, erlebte den Absturz wie folgt:
"Wir gingen nach Friedberg in die Schule und warteten nach Schulschluß am Friedberger Bahnhof auf unseren Zug, der uns zurück nach Reichelsheim bringen sollte. Vom Bahnsteig aus sahen wir die Maschine im Sinkflug mit für uns komischen Flugbewegungen in Richtung Osten trudeln. Ein anderer Fahrgast sagte, das der Flieger abgeschossen wurde und nun abstürze. Irgendwann verloren wir den Flieger aus den Augen, als er hinter den Häusern von Fauerbach verschwand. Als etwas später der Zug aus Nidda in Friedberg eintraf, berichteten die Fahrgäste aufgeregt, dass ein Flugzeug mitten in Reichelsheim abgestürzt sei und alles brennen würde. Wir bekamen es mit der Angst zu tun und machten uns Sorgen um unsere Familien. Deshalb fuhren wir einen Zug früher. Wir mussten in Beienheim aussteigen und liefen bis nach Reichelsheim. Als wird dort ankamen, war das Feuer bereits gelöscht. Wir sahen die rauchenden Trümmer des Kindergartens. Hausfronten der umliegenden Häuse waren beschädigt. In einem Hof konnten wird die Motoren des Fliegers liegen sehen."

Robert Lauster, damals 14 Jahre alt, erlebte den Absturz hautnah:
"Es war um die Mittagszeit, ich hatte gerade meine Mahlzeit beendet und spazierte über den Hof der Schlosserei, plötzlich sah ich von Weckesheim her kommend einen Tiefflieger.", erzählte Robert Lauster in einem Interview der Wetterauer Zeitung. Als damals 14-jähriger hatte er gerade seine Schlosserlehre bei der in Reichelsheim ansässigen Firma Sprengel begonnen. Einige Gebäude der Firma stehen heute noch in der Bingenheimer Straße 25, heute Sitz der Sparkassenfiliale. "Zusammen mit Frauen und Kindern, die aus Frankfurt evakuiert waren, rannte ich in den Luftschutzkeller der Firma, es war Fliegeralarm ausgelöst worden. Bis wir im Keller angekommen waren hat es auch schon geknallt. Nach einer Weile ging im Keller das Licht aus. Dann haben wir uns ins Freie getastet und standen in einer riesigen Rauchwolke. Auf der Straße sahen wir die Trümmerteile des Fliegers herumliegen. Die Feuerwehr rückte an, wir halfen alle mit, Wasser mit Eimern aus der Horloff zu holen."

Auswirkungen

Der Molkereischornstein auf dem späteren Genossenschaftsgelände war durch die Kollision mit dem Flugzeug beschädigt worden. Die Spitze hatte seit dem Zusammenstoß einen "Knick in der Optik". Im März 1987 wurde der Schornstein gesprengt.


Informationsquellen:
- Andreas Dort (Luftfahrthistoriker, Staufenberg)
- 447th Bombardment Group (www.447bg.com)
- USAAF Combat Chronology 1941-1945
- B17 Flying Fortress - Stadt Zwickau
- Wikipedia
- Stadtarchiv Friedberg (Friedberger Luftschutz- und Kriegstagebuch 1940-45)
- Zeugenaussagen in persönlichen Gesprächen

Bilder:
- Wetterauer Zeitung (1)
- Horst Diehl (2)
- Alexander Hitz (3)



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© | Alexander Hitz