Reichelsheim
Der Reichelsheimer Mäusekuchen
Warmer Mäusekuchen ist ein Gedicht -
Gemeinschaftliches Mäusekuchenbacken am 24.01.2015
Man nehme: Eine Portion Tradition, eine Prise Neugier, etwas Zeit und eine Backstube, in der sich 15 Hobbybäcker tummeln. Diesen überlässt man Mehl, Zucker, Hefe, Milch, Butter, Salz, Ei und zwei geräucherte Bratwürste. Nach zweieinhalb Stunden gibt's mehr als ein Dutzend Mäusekuchen. Bäckermeisterin Elke Kriegck und Hobby-Historiker Horst Diehl hatten am Samstag zum gemeinschaftlichen Mäuskuchenbacken in die Backstube der Lebensgemeinschaft eingeladen. Beide sind gebürtige Reichelsheimer. Beide in Bäckersfamilien aufgewachsen. "Mäusekuchen ist eine Tradition, mit der ich groß geworden bin", erzählt die 49-jährige Kriegck. Als Kind habe sie den Teig gegessen, ihrem Onkel überließ sie die Wurst. Später bestimmten die Mäusekuchen die Arbeit am Silvestermorgen. Weit mehr als 50 Hefeteigrollen mit Wurst galt es für die Kundschaft zu backen. "Jede Familie hatte ihre Vorlieben für Wurst, sie brachten sie vorher zu uns", erzählt Kriegck. "Die Wurst wurde mit Zetteln versehen, die Kuchen auch." Was die Wurst betrifft, sind die Geschmäcker in den Familien unterschiedlich: Die einen mögen geräucherte Bratwurst, die anderen bevorzugen frische. Für den Workshop besorgte Diehl geräucherte. Ehe die in die Teighülle gerollt wurden, galt es den Hefeteig herzustellen. "Bisher hatte ich immer großen Respekt vor Hefeteig, der ist aber schnell gemacht", urteilt Antje Koburger. "Zu Silvester haben wir uns immer Mäusekuchen bestellt, seit es in Reichelsheim keine Bäckerei mehr gibt, ist das vorbei", bedauert sie. In großen Schüsseln knetet jeder Mäusekuchenfan seinen Teig."Mich interessiert, wie der Mäusekuchen schmeckt, ich habe ihn noch nie gegessen", sagt Christine Schröder, die seit acht Jahren in Reichelsheim wohnt. "Ich will es ausprobieren." Gekonnt mengt Detlef Zeman den Hefeteig. "Mäusekuchen haben wir zu Silvester bestellt und für Freunde besorgt", berichtet der Reichelsheimer. "In unserer Familie hatte das Backen keine Tradition, meine Eltern waren Flüchtlinge", erzählt der 58-jährige. "Meine Oma backte bei uns den Mäusekuchen, später übernahm das meine Mutter", erinnert sich Christine Ullrich. "Die Frage ist: kommen eine oder zwei Würste in den Teig", sagt sie. "Die Mäusekuchen in einem Workshop zu backen, finde ich eine super Idee." Gemeinsam mit ihren Freundinnen Silke Gerhardt und Steffi Reuhl macht sie sich ans Werk. Nebeneinander unterm Geschirrtuch ruhen ihre Teigballen.
Nach kurzer Pause geht's ans Ausrollen. Kriegck zeigt wie's geht: Teig etwa so lang auswellen wie die Würste sind. Die Würste auf den Teig legen, etwas Teig drüber wickeln, aufrollen. Ist der herzhafte Inhalt ummantelt, die Teigenden überschlagen und den Rohling umdrehen und aufs Blech legen. Binnen kürzester Zeit sind auf diese Weise 15 Mäusekuchen entstanden. Aufgereiht stehen sie in der Gärkammer. Zeit für einen Imbiss: Kaffee, Tee und frischen Mäusekuchen, den Kriegck zuvor gebacken hat. "Mmh, das hat was", urteilt Schröder. "Warm, schmeckt er am allerbesten, ein Gedicht", schwärmt Diehl. Lob von allen Seiten. "Gut, dass ich jetzt das Rezept habe", sagt Sylke Reinelt. "Unsere Familie lebt erst seit den 1960er Jahren in Reichelsheim, da gab es kein Familienrezept." Das Rezept werde sie umgehend an ihre Freundin nach Österreich weiterleiten, die die Reichelsheimer Spezialität gern isst. "Damit der Mäusekuchen über Reichelsheim hinaus bekannt wird."
Zeit die Spezialität in den Ofen zu stoßen. Etwa 30 Minuten bleiben die Kuchen bei 200 Grad drinnen. Gespannt blicken die Bäcker auf ihre Werke. Wo die Mäusekuchen-Tradition herkommt, hat Diehl noch nicht herausgefunden. "Albert Nohl beschrieb in seinen Notizen über die Reichelsheimer Geschichte aus dem 19. Jahrhundert die Backgewohnheiten, aber nicht woher der Brauch kommt", sagt Diehl. "In anderen Kulturen gibt es die Tradition zum Dreikönigstag Hefekuchen mit einer Überraschung drinnen zu backen, das passt zum Mäusekuchen." Den Hobbybäckern ist das egal: "Hauptsache es schmeckt", urteilen sie. "Jetzt weiß ich, wie es geht und kann die Tradition selbst weitergeben", sagt die Bad Nauheimerin Sonja Vitez.
15 Frauen und Männer trafen sich am Samstag in der Bäckerei der Lebensgemeinschaft Bingenheim, um selbst das Reichelsheimer Traditionsgebäck Mäusekuchen zu backen. Anfangs wurden die Zutaten abgewogen.
Ruhe: Hefeteigballen gehen, ehe sie ausgerollt und mit Wurst befüllt werden.
Initiator: Hobby-Historiker Horst Diehl knetet auch mit. Seit wann in Reichelsheim Mäusekuchen gebacken wird, kann er nicht sagen. Aufzeichnungen gibt es bereits aus dem 19. Jahrhundert.
Bäckermeisterin Elke Kriegck zeigt, wie die Wurst mit Teig ummantelt wird.
Backspaß im Team: Die Freundinnen Steffi Reuhl, Christine Ullrich und Silke Gerhardt genießen und dokumentieren das gemeinsame Backen.
WZ-Mitarbeiterin Ines Dauernheim packt mit an, um auch einen Mäusekuchen herzustellen.
Schon wieder Ruhe - diesmal lagen die rohen Mäusekuchen im Gärschrank.
Ehe es für die Mäusekuchen in den Ofen geht, sticht Kriegck sie ein, damit Luft entweichen kann.
Fertig - Die Reichelsheimer Spezialität Mäusekuchen. Er wird traditionell an Silvester gebacken, schmeckt aber auch noch einige Wochen später.
Text und Bilder: Ines Dauernheim, freie Journalistin