Reichelsheim

Der Reichelsheimer Mäusekuchen

Kaffee und Mäuskuchen im Kolleg der Mehrzweckhalle am 22.12.2014

Am Tag der langen Nacht ging es um das Thema Mäusekuchen. Ungefähr vierzig Besucher folgten der Einladung und kamen an diesem Nachmittag in die Mehrzweckhalle. Die Veranstalter wollten der Tradition des Mäuskuchens nachspüren und wollten hören, welche Geschichten um diesen Kuchen in den Familien noch lebendig sind.

Mäuskuchen ist ein Gebäck, das in den Tagen des Jahreswechsels in Reichelsheim - und nur dort - hergestellt wird. Es ist ein Art Hefeteigkringel, welcher mit einer oder zwei Bratwürsten gefüllt wird.

Bereits vor dem offiziellen Beginn der Veranstaltung wurde von Besucherinnen lebhaft diskutiert, ob man geräucherte oder auch rohe Bratwurst verwenden sollte. "Bei der rohen Wurst tritt mehr Fett aus; das gibt so einen schönen, saftigen Rand" sagten manche. Andere wollten nur geräucherte Wurst nehmen. "Das schmeckt kräftiger" war ihre Meinung. Rezepte mit viel oder wenig Zucker, zwei oder dreierlei Sorten Fett, mit oder ohne Ei. Angestochen oder nicht und mit Ei oder Wasser abgestrichen oder auch gar nicht abgefrischt. Es gibt viele Varianten und Geschmäcker.

Manche Frauen berichteten, dass bei Vereinsveranstaltungen zu dieser Jahreszeit zehn bis zwölf Mäuskuchen privat gebacken wurden, damit jedes Vereinsmitglied kräftig zulangen konnte. Frau Erika Kappes hatte Bilder mitgegeben, auf denen zu sehen war, wie der Gesangverein mit diesen Leckerbissen von ihr verwöhnt worden war.

Ein Teilnehmer erinnerte sich an Erzählungen, dass wenn man früher als junger Mensch am Neujahrstag zu seinen Paten ginge, um denen das neue Jahr "abzugewinnen" (der erste sein, der einem das Neujahr wünscht) dafür mit Mäuskuchen belohnt wurde.

Nach der Begrüßung wurde auch schon der frische Mäuskuchen hereingetragen. Elke Kriegck, die Reichelsheimer Bäckerin, die jetzt in Bingenheim bei der Lebensgemeinschaft arbeitet, hatte die Kuchen gebacken. In Reichelsheim gibt es keine Backstube mehr.

Gretel Volz und Silvia Diesch-Sehrt trugen einen Sketch vor, bei dem zum Ausdruck gebracht wurde, wie wichtig es für einen richtigen Reichelsheimer ist, an Silvester Mäuskuchen essen zu können und wie einfach dieser herzustellen sei. Leute die nicht aus Reichelsheim sind und keinen Mäuskuchen kennen, seien wahrlich zu bedauern.

In den Gesprächen an den einzelnen Tischen wurde deutlich, dass nicht in allen Familien Mäuskuchen gebacken wird, dass z.B. damals Frauen, die nicht aus Reichelsheim stammten, ihren Familien keinen Mäuskuchen servierten und aber auch, dass sogar einige das Traditionsgebäck verschmähen. Andererseits gab es und gibt es Reichelsheimer, die das Schicksal traf, wegziehen zu müssen, und die sich selber wenigstens einen kleinen Mäuskuchen backten oder diesen sogar nachschicken ließen. Das war ja gar kein Problem. Reichelsheim hatte bis in die siebziger Jahre sein Postamt in der Bingenheimer Straße, wo zuletzt Hans und Else Sauer Pakete jeglicher Art annahmen und auch austrugen. Größere Sendungen - etwa 10 Mäuskuchen auf einmal - wurden z.B. mit der Bahn per Fracht verschickt. Es gab in Reichelsheim damals nicht nur einen Bahnhof mit Wartesaal und Klo, nein es gab auch einen Güterbahnhof; und all das wurde von Addi Hingshamer und Frau Gertrud betreut, sehr verbraucherfreundlich.
Warum sich diese ausgezeichnete Mäusekuchentradition nicht ausgebreitet hat - zumindest über die Wetterau - das wird wohl ein Geheimnis bleiben.

Horst Diehl las aus den Aufzeichnungen von Albert Nohl vor. Albert Nohl - ein ehemaliger Reichelsheimer, der aus dem Haus Römerberg 3 stammte, Lehrer wurde und in Oppenheim, das damals noch zu Hessen gehörte, seine Stelle bekam. Jede Sommerferien verbrachte er mit Frau und drei Kindern bei der Familie seines Bruders. In seinem Heimatstädtchen Reichelsheim machte er viele Aufzeichnungen über Sitten und Gebräuche der Menschen hier. In achtzehn Schulheften berichtete er über Häuser, Familiennamen, Gewannnamen und Traditionen, so auch über Mäuskuchen.

Man erfuhr, dass bereits beim Schlachttermin eines Schweins darauf geachtet werden musste, dass die Mäuskuchenwurst bereits vor Weihnachten fertig geräuchert war. Zwischen den Jahren schlachtete man nicht. Die Hausschlachtungen brauchten ihre Zeit und die Fleischer waren ausgelastet. Jeder versuchte einen günstigen Termin bei seinem Metzger zu bekommen.

Man muss wissen, dass die Menschen im Dorf zum großen Teil Selbstversorger waren. Man ernährte sich aus seinem Garten, man schlachtete sein eigenes Vieh (Hausmetzger). Im Geschäft wurden lediglich die Sachen gekauft, die man nicht selber herstellen konnte - Kolonialwaren also. Deswegen hießen diese Geschäfte auch so.

Mäuskuchenwurst konnte man nicht im Geschäft kaufen, die machte der Hausmetzger. Und wer arm war und sich bestenfalls einmal einen Hasen schlachten konnte, der hatte eben keinen Mäuskuchen. Dies änderte sich erst in den sechziger und siebziger Jahren, als die Metzgereien Rühl und Haas begannen, diese Würste auf Bestellung herzustellen. Auch die Bäcker hatten sich nun darauf eingestellt, Mäuskuchen herzustellen. Die Kunden brachten die Wurst und der Bäcker verpasste ihr eine Teighülle. Von Kriegcks erfuhren wir, dass die Mäuskuchenzeit die hektischste Zeit des Jahres war. Wer hat welche Wurst gebracht? Lange Listen wurden angelegt, die Bleche mit Namensschildern versehen. Schließlich wollte ja jeder seine eigene Wurst im Teigmantel wiederbekommen.

Während sich alle Anwesenden an Mäuskuchen und Kaffee gütlich taten und keine weiteren Beiträge zu Mäuskuchen mehr kamen, zeigte Horst Diehl alte Bilder von "Damals". Das ruft stets große Begeisterung hervor. Der Vergleich von früher und jetzt ist immer anregend, besonders wenn man Ähnlichkeiten von Vorfahren und Zeitgenossen entdeckt. Der Bildvortrag hätte noch lange weitergehen können, doch wenn es am schönsten ist, sollte man aufhören.

So dankte Elli Schäfer gegen 17.oo Uhr allen Anwesenden für ihr Kommen, Elke Kriegck für den Mäuskuchen und Horst Diehl für seinen Vortrag und für die Organisation.

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Rund 40 Gäste fanden sich am 22.Dezember 2014 im Reichelsheimer Bürgerhaus ein, um über den Mäuskuchen zu sprechen.


Text und Bild: Horst Diehl



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