Reichelsheimer Geschichte

Die Reichelsheimer Genossenschaft

Über ein Jahrhundert prägten die Gebäude der Genossenschaft in der Bad Nauheimer Straße das Ortsbild von Reichelsheim. 1892 mit 52 Mitgliedern als Molkereigenossenschaft gegründet und gebaut, wurden die Gebäude und das Gelände immer wieder neuen Anforderungen angepasst.
Um 1935 erlebte die Reichelsheimer Molkerei einen ungeheuren Aufschwung. Durch das Milchwirtschaftsgesetz von 1934 wurden der Molkerei neue Gemeinden zugeteilt, so dass die Genossenschaft zu diesem Zeitpunkt rund 500 Mitglieder hatte. Neben dem Milchverkauf, produzierte man Sauermilchkäse und -speisequark, Butter und Buttermilch; Trockenquark wurde an Käsereien verkauft. In einer Anzeige aus dem Jahre 1906 wirbt man mit der Produktion feiner Tafelbutter aus pasteurisiertem Rahm. In den 30er und 40er Jahren lag die tägliche Milchanlieferung zwischen 8000 und 10000 Litern.

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Die Reichelsheimer Molkerei um das Jahr 1900 herum. (1)

Zusammen mit der örtlichen Genossenschaft wird 1957 in der Kirchgasse eine moderne Gefrieranlage eingerichtet. Unter dem Vorsitzenden der Bezugs- und Absatzgenossenschaft, Karl Bausch, wurden 18 Silos Anfang der 60er Jahre in der Hofreite Vogt, Bingenheimer Straße, für lose Getreideabnahme gebaut.

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Bild von der Grundsteinlegung der neuen Gefrieranlage in der Kirchgasse. In der Bildmitte ist Karl Bausch (mit Melone) zu sehen. (3)

1962 wurde der Molkereibetrieb stillgelegt. In Fortsetzung der Aufwärtsentwicklung der Bezugs- und Absatzgenossenschaft wurde 1970 im Gebäude der ehemaligen Molkerei ein modernes Lager mit Maschinenwerkstatt eingerichtet. Das Getreidelager von der Firma Wagner am Reichelsheimer Bahnhof mit gut ausgestatteter Annahme wird übernommen. Sie gewinnt damit überörtlich an Bedeutung. Während der Erntezeit sind einige Jahre zwei Getreideannahmen in Betrieb. Neben der Getreideannahme am Bahnhof erfolgt im Getreidelager in der Bingenheimer Straße 35 die Getreideannahme über die Straße "Im alten Dorf". Lange Warteschlangen prägten in der Erntezeit das Ortsbild in der Bingenheimer Straße. Teilweise wurde mehrere Stunden vor der Annahme gewartet. Gespräche wurden geführt, das eine oder andere Bier wurde gemeinsam getrunken.

Zur Genossenschaft gehörte lange Jahre eine Landmaschinen-Werkstatt, die angrenzend an das Hauptgebäude untergebracht und durch den Hof zugänglich war. Im Keller wurde ein Lager mit gängigen Ersatzteilen geführt. Als der Werkstattbetrieb Anfang der 90er Jahre eingestellt wurde, waren hier nach einem Umbau verschiedene metallverarbeitende Betriebe untergebracht.

In den 70er/80/90er Jahren konnten in der Genossenschaft bzw. der Landwirtschaftlichen Bezugs- und Absatzgenossenschaft (LBAG) unter anderem auch folgende Waren gekauft werden (Auszug):
  • Tierfutter
  • Werkzeuge
  • Schrauben
  • Zement, Estrich, Putze etc.
  • Trockenbaustoffe
  • Sand, Kies und Schotter
  • Hohlblock- und Kalksandsteine etc.
  • Abwasserrohre und Zubehör
  • Gartenzubehör
  • Pflanzengift und Düngemittel
  • Heizöl und Diesel
Bis in die 80er Jahre war es sogar noch üblich, dass morgens Mitarbeiter der Genossenschaft auf dem Weg zur Arbeit die Reichelsheimer Landwirte abliefen und Bestellungen entgegen nahmen. Auf Tafeln waren bei den Landwirten mit Kreide die benötigten Waren aufgelistet. Später am Tag wurden die bestellten Waren dann per LKW ausgeliefert.

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Die sogenannte 'AMBI-Halle' (AMBI=Arthur Müller BauIndustrie) diente als Lagerhalle.

Nachdem die Molkerei in Reichelsheim bereits seit längerer Zeit ihren Betrieb eingestellt und das Gebäude von der Bezugs- und Absatzgenossenschaft Reichelsheim übernommen wurde, mußte 1987 der mächtige Schornstein der zu einem Wahrzeichen von Reichelsheim geworden war, aus Sicherheitsgründen gesprengt werden.

Im August 1989 kommt es zu einem Unfall am Getreidelager am Bahnhof. Aufgrund der großen Getreidemengen, die angeliefert werden, entschloss man sich den Zwischenraum innerhalb der Lagerhalle zwischen Silo und Außenwand ebenfalls durch Überlaufen des Silos mit Getriede zu füllen. Die Wand, bestehend aus Hohlblocksteinen hält diesem Seitendruck nicht lange Stand und fiel um. Mit großem Aufwand mussten Getreide und Bauschutt getrennt und entsorgt werden.

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Die Wände des Getreidelagers stürzten 1989 ein. (5)

Spätestens seit Anfang der 90er Jahre prägt das ausgebrannte Wohnhaus am nördlichen Ende der sogenannten "Ambi-Halle" und andere ruinöse Gebäude das Stadtbild am Bahnhof. Das Wohnhaus wurde lange Jahre von einer türkischen Familie bewohnt. Anfang der 90er brannte dieses Haus fast vollständig aus und war damit nicht mehr bewohnbar. Es stand in den nachfolgenden Jahren leer und entwickelte sich zur Müllhalde und zum Spielplatz von Vandalen. Immer wieder kam es in diesem Gebäude zu kleineren Bränden durch Brandstiftungen. Ein letzter größerer Brand konnte am Ostermontag 2002 verzeichnet werden.

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War mehrfach das Opfer von Brandstiftungen: Das ehemalige Wohnhaus an der Verladestraße. (5)

Zum 1. Juli 2004 übernahm die RWZ das Warengeschäft von der Raiffeisen Wetterau. Anschließend wurde in das Dorn-Assenheimer Getreidelager investiert. Die bestehende Lagerhalle, die die Raiffeisen Wetterau in die Zusammenarbeit mit der RWZ eingebracht hat, wurde zu einem modernen Lagerkomplex umgebaut. Anfang Juli 2005 eröffnete das Lager. Das Großprojekt verschlang eine Bausumme von rund 7,5 Millionen Euro. Die vier über 30 Meter hohen Silos haben je ein Fassungsvermögen von 2500 Tonnen Getreide. Die umgebaute Lagerhalle fasst über 6500 Tonnen. Pro Stunde können in beiden Gossen 200 Tonnen Getreide aufgenommen werden. Das sind im Wesentlichen Weizen, Raps, Sommer- und Wintergerste.
Weiter wurden Lagerkapazitäten für bis zu 6000 Tonnen Dünger geschaffen. Ebenso existieren Tankanlagen für Heizöl, Diesel und Biodiesel.

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Das neue Getreidelager der RWZ im Reichelsheimer Stadtteil Dorn-Assenheim.

Zum 31. Dezember 2005 hatte die Raiffeisen Warenzentrale (RWZ) ihren Mietvertrag mit der Raiffeisen Wetterau gekündigt. Seit 2005 versuchte nun die "Raiffeisen Wetterau" das Gelände zu vermarkten. Diese Genossenschaft, die auf dem Areal bis vor einigen Jahren einen Landhandel betrieb, wird nach dem Verkauf des Geländes aufgelöst. Der Vorstand versuchte ein optimales Ergebnis für die rund 200 Anteilseigner auszuhandeln.

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In der Karte ist die ehemalige Lage des Raiffeisengeländes in Reichelsheim rot eingezeichnet.
(Karte © OpenStreetMap und Mitwirkende, CC-BY-SA, Bearbeitung: A.Hitz)

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Blick auf das Raiffeisengebäude im Jahr 2010 in der Bad Nauheimer Straße: Links der Wohn-, Laden- und Lageranbau, in der Mitte das ehemalige Molkereigebäude, rechts die als Lager dienende 'Ambi-Halle'.

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Eingang und Verladerampe aus den 60er Jahren des Raiffeisenmarktes.

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Der Raiffeisenmarkt in der Bad Nauheimer Straße kurz vor der Schließung im Oktober 2005. (2)

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Blick in den Raiffeisenmarkt Ende 2005. (2)

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Das ehemalige Raiffeisen-Getreidelager am Reichelsheimer Bahnhof.

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Blick in der Getreidelagerhalle des neuen RWZ-Standortes in Dorn-Assenheim im Jahr 2002.


Entwicklung des ehemligen Raiffeisengeländes

Auf dem gesamten Areal zwischen Bad Nauheimer Straße und Bahnhof befanden sich fünf Grundstücke. Das größte davon war das der ehemaligen Genossenschaft mit einem Umfang von rund 5.000 Quadratmetern. Weiterhin befand sich dort nach Osten anschließend eine landwirtschaftliche Fläche, die 100 Meter lang und 20 Meter breit war. Außerdem gibt es noch drei Privatgrundstücke, deren Eigentümer verkaufsunwillig sind. Die Stadt Reichelsheim hatte vorgehabt, alle Flächen zu erwerben, um auf dem dann 10.000 Quadratmeter umfassenden Areal eine 'neue Reichelsheimer Mitte' zu entwickeln. Die Gesamtfläche sollte dabei neu verschnitten werden, dann bedarfsgerecht an Investoren verkaufen werden, um 'aus einem Guss' Wohn- und Geschäftshäuser zu errichten. Ins Auge gefasst wurde ursprünglich sogar der Neubau des Rathauses auf diesem Areal. Es entstand später allerdings auf der gegenüberliegenden Seite der Bahngleise.

Bereits im April 1999 signalisierte das Stadtparlament grünes Licht für die Aufstellung eines Bebauungsplanes für dieses Areal. Der damalige Grundgedanke hierfür war, unter anderem die seinerzeit geplante Betriebserweiterung der Landwirtschaftlichen Bezugs- und Absatzgenossenschaft (LBAG) zu ermöglichen. Die von der LBAG ins Auge gefasste Betriebserweiterung wurde aus ökonomischen Gründen aber nie realisiert. 2005 wurde der Betrieb - wie zuvor beschrieben - eingestellt und alle Gebäude/Anlagen 2011-2013 abgerissen.

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Ende August 2011 werden die Gebäude in der Bad Nauheimer Straße inklusive Wohnhaus und Ambi-Halle abgerissen. Das Getreidelager blieb vorerst aufgrund eines bestehenden Vertrages für eine Antenne mit einem Mobilfunkanbieter erhalten. (4)

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Demontage der Getreidelagerhalle im Dezember 2012


Nachdem das Thema 'Raiffeisengelände' lange und immer wieder Thema in der Stadtparlament war, wurde ein entsprechender Bebauungsplan verabschiedet und auf dem größten der Einzelgrundstücke ein Einkaufsmarkt errichtet, der im Dezember 2011 eröffnete.

2018 wurde auf der Ostseite des Einkaufsmarktes die bis dahin als Sackgasse bestehende Bahnstraße verlängert und bis auf die Bad Nauheimer Straße geführt. Ebenso wurden damit die noch zu bebauenden Grundstücke zwischen der neuen 'Raiffeisenstraße' und der eigentlichen Bahnstraße erschlossen. Mit dem Bau der neuen Straße wurden auch die Bushaltestellen verlegt, so dass die Buslinien des Regionalverkehrs nun am Reichelsheimer Bahnhof halten.

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Bau der Raiffeisenstraße vom Bahnhof auf die Bad Nauheimer Straße im April 2018.



Quellen:
- Reichelsheim in der goldenen Wetterau - Historische Betrachtungen
- Chronik der Freiwilligen Feuerwehr Reichelsheim zum 100 jährigen Juniläum 1992
- Wetterauer Zeitung, diverse Ausgaben aus den Jahren 2008-2011
- Kreis-Anzeiger, diverse Ausgaben aus den Jahren 2008-2011

Bilder:
- (1) Reichelsheim in der goldenen Wetterau - Historische Betrachtungen, S.186
- (2) Ines Dauernheim
- (3) Bilder der Familie Hitz
- (4) Nils Ehmann
- (5) Feuerwehr Reichelsheim
- alle nicht gekennzeichneten Bilder: Alexander Hitz



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