Reichelsheimer Geschichte

Der große Brand von 1665

Wenn man sich ein wenig mit dem alten Reichelsheimer Ortskern beschäftigt hat, lernt man schnell etwas über Stadtmauer, Stadttore und Stadtrechte. Geht man aufmerksam die Gassen des alten Ortskernes ab, fällt die besonders breite 'Neugasse' auf. Im Gegensatz dazu sind andere Gässchen entlang der Stadtmauer, wie beispielsweise Obere und Untere Haingasse, sehr schmal. Das hat folgenden Hintergrund: Ein großer Brand hat den südlichen Teil Reichelsheims im Jahr 1665 fast völlig zerstört. Hagen Behrens hat diese Brand in dem Buch 'Reichelsheim in der goldenen Wetterau' versucht aufzuarbeiten.

28.Juni 1665

Eine kleine Stadt, umgeben von einer Mauer. Die Gassen bis auf die Hauptstraße schmal, die Fachwerkhäuser dicht an dicht gedrängt. Dazwischen die hölzernen Scheunen und Ställe, fast alle Gebäude mit Stroh gedeckt - die Scheunen zudem reich angefüllt mit frisch eingebrachtem Heu.

Es ist Sommer. Seit Sonnenaufgang ist Leben in den Ställen und auf den Straßen. Das Vieh will früh versorgt sein. Um 7 Uhr in der Frühe läuten die drei Glocken der Kirche Sturm: "Feuer!" schreien die Menschen entsetzt. "Feuer!"

Brand 1665

Sie rennen auf die Straße, laufen zum Rathaus, die meisten von ihnen haben bereits ihren Ledereimer in der Hand. "Feuer in der Untergasse!" - "Feuer in der Haingasse!" - "Feuer am Amtshaus!". Ob Bauer oder Sattler, Maurer oder Bierbrauer, Zimmermann oder Schmied, Schuhmacher oder Glaser, Herr oder Knecht, jung oder alt - jeder läßt sein Werkzeug fallen, um zu helfen!

Schnell bildet sich von den nahe gelegenen Brunnen eine Menschenkette zu den Brandstellen. Vor allem von der Weed her, dem Feuerlöschteich am nördlichen Rande der Marktstraße (heute Bingenheimer Straße), wird Eimer für Eimer Wasser gereicht. Erschreckte Menschen aus den Nachbarorten Heuchelheim und Dorn-Assenheim kommen zu Hilfe und verstärken die Einheimischen bei ihren verzweifelten Versuchen, dem prasselnden Feuer in seiner Gier Einhalt zu gebieten.

Nach Stunden des verzweifelnden Löschens züngeln nur noch einzelne Flammen in verkohlten Balken und Brettern. Erschöpft und zum Teil völlig niedergeschlagen sitzen die Menschen aus dem Südteil des Ortes herum, so als wüßten sie nichts mehr von ihrer Umwelt. 68 Gebäude waren den Flammen zum Opfer gefallen. Zum Glück, so konnte bald festgestellt werden, traf es nur wenige der besser gebauten Wohnhäuser. Die Kirchenchronik weiß zu berichten:

"Den 28. Juni 1665 ist morgens um 7 Uhr eine gewaltige Feuerbrunst entstanden, welche in 1,5 Stunden 68 Gebäude in Brand setzte, davon sind 18 Scheuern und alle dabei gestandenen Ställe samt drei Wohnhäuser ganz in Asche gelegt worden, die anderen Gebäude sind auch beschädigt; aber doch durch Gottes und benachbarter Hülfe gerettet worden.
Bei diesem Brande ist die Pfarrscheuer sammt allen Ställen eingeäschert worden. Und ist die ganze Seite bis hin an die Oberpforte und Backhaus abgebrannt und nur allein die Häuser, die auf die Gasse gesehen, sind stehen geblieben, wiewohl auch alle von dem Brand sind berührt worden. Das Pfarrhaus hat auch angefangen zu brennen, ist aber mit Gottes Hülfe erhalten worden.
"

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Wer heute durch den alten Ortskern geht, der sollte sich folgendes vorstellen: Die Bereiche Neugasse, Florstädter Straße, Untere Haingasse, Sandgasse, Kirchgasse, d.h. fast alle Straßen und Gassen des gesamten Südteiles des Ortes, waren betroffen gewesen.

Die Karte links zeigt Reichelsheim um das Jahr 1900 herum. Grob eingezeichnet ist der Bereich des Brandes aus dem Jahr 1665. Die roten Flächen zeigen die vom Brand zerstörten Bereiche, die gelb/schwarz markierten Flächen waren nur teilweise betroffen.

Ein Straßenzug wurde nach dem Brand völlig erneuert und hat daher seinen Namen: die Neugasse. Deutlich ist auf der Karte der Unterschied zwischen den schmalen alten Gässchen und der wesentlich breiteren Neugasse (rechts unten im Bild) zu erkennen.

Neugasse
Blick auf das heutige Reichelsheim von Norden. Die grün markierten Strassen zeigen die breite Neugasse und den Römerberg. Rot markiert sind die bis heute schmalen Gässchen wie Haingasse, Sandgasse, Kirchgasse usw.

Was war Ursache des Brandes?

Pfarrer Hyronimus Frech, der damals der Gemeinde vorstand, notierte:
"Der Brand ist ausgegangen in einer Scheuer, welche nebst dem Hause verkauft war und 1/4 Jahr lang leerstand" (s. Kirchenchronik, S.107).

Sollte die Ursache Rache oder Verzweiflung gewesen sein? Oder hat sich Heu etwa selbst entzündet? Pfarrer Frech teilt andere Vermutungen mit:
"Alle Thüren, Ställe und Scheuern waren verschlossen. Niemand weiß, wie der Brand entstanden ist, obwohl vermuthet wird, er sei von bösen Leuten (= Hexen, Zauberern) angelegt worden."

Nach der Hoffnung, die der Freiheitsbrief in der Bürgerschaft geweckt hatte, kam wenige Wochen später dieser Schock. Doch jetzt galt es wirklich, zu handeln. Und wenn wir den Berichten der Pfarrer trauen können, so wurde wirklich schnell Hand angelegt:
"Schon den 21. August wurde ein neuer Stall auf dem Pfarrhof errichtet. 1666 wurde eine neue Pfarrscheuer gebaut", teilt Pfarrer Frech mit.

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Diese mittlerweile über 300 Jahre alte Pfarrscheuer kann heute an anderem Ort betrachtet werden. Sie steht seit Anfang dieses Jahrhunderts an der Straße 'Römerberg', im Garten der Anwesens Nr.8 und ist von der Neugasse her gut zu sehen.

Gab es Konsequenzen aus diesem Brand?

Wer durch die Neugasse geht, der sieht zu den übrigen Straßen einen wesentlichen Unterschied. Die Straße ist breit, sie läßt es nicht so leicht zu, daß im Falle eines Brandes die Funken von einer Straßenseite zur anderen überfliegen können.

Eine weitere Konsequenz: Am Martinigericht des Jahres 1687, das am 19. Oktober jenes Jahres vor dem Rathaus abgehalten wurde, wurde allen anwesenden Ortsbürgern bekanntgegeben, daß Wohnhäuser nicht länger mit Stroh gedeckt werden dürften; "Bey straf" sollten in Zukunft nur noch gebrannte Ziegel Verwendung finden. Diese Verordnung, die später auch auf die Wirtschaftsgebäude ausgeweitet wurde, mußte mehrfach erneuert werden, weil - wahrscheinlich - manch ein Reichelsheimer Strohdeckung aus Kostengründen weiterhin bevorzugte.


Quelle: Reichelsheim in der goldenen Wetterau
Bilder und Grafiken: Alexander Hitz




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